Guadeloupe

Wer liegt schon gerne unter Palmen. Wintertraining einmal anders: Rennradfahren auf der Karibikinsel Guadeloupe.

Gerade hat die Kette ganz links außen Platz genommen. Was gestern noch eine Straße war, ist jetzt ein Bach. Es rauscht, fließt – der sonst grabstille Wald hallt wieder unter Millionen Tropfen. Man sieht kaum noch 50 Meter weit – wenn man nur den Blick erheben würde. Ich aber starre mit verzerrtem Gesicht nach unten auf das im tropischen Regen verschwimmende Stück Asphalt. Meter für Meter ziehe ich, drücke ich mich den Berg hoch: 10 km/h, bitte nicht einstellig werden, bitte! Meterhohe Farne, Lianen, namenloses Grün zwischen den Pfahlwurzeln der Urwaldbäume scheinen die Straße wegdrängen zu wollen – und alle, die sie zu befahren versuchen: „Was willst Du hier? Hinab ins Tal mit Dir!“

Zwei Wochen zuvor. Aéroport Point-à-Pitre, Guadeloupe. Mit Februar weißem Teint steigen wir aus dem Flugzeug von Paris und starten unseren Versuchsballon: 18 Tage Radurlaub in der Karibik – nicht mit Mountainbike oder Reiserad, sondern mit dem Rennrad. Als wir in den Wochen zuvor von unseren Plänen berichtet hatten, gab es regelmäßig die gleichen Fragen: „Guadeloupe? Ach in der Karibik! Nachbarinsel von Martinique und Antigua? Zum Tauchen? Zum Surfen?“ – nein, Rennradfahren. Den Tipp hatte ich von einem befreundeten Franzosen bekommen, einem Kaderfahrer, der wusste wovon er sprach. Er kam – und schwärmte – von der französischsprachigen Antilleninsel, die als Übersee-Departement zu Frankreich gehört und damit auch zur EU. Also Euroland inmitten der Karibik, nur 700 km nördlich von Venezuela. Bezüglich der Radfahrmöglichkeiten, erzählte man mir, sei Guadeloupe so etwas wie das Mallorca der Karibik. Das klang gut. Die üblichen Winterradfahrziele hatte man ja schon oft besucht und trotz unserer Kurzentschlossenheit gab es für Februar noch Flüge nach Guadeloupe. Und damit war das äquatornahe Trainingslager beschlossene Sache.

Das Thermometer am Parkplatz vor dem Flughafen zeigte 31 Grad an. Es war 19 Uhr und Nacht. Sofort hatten wir die Gewissheit, dass jedes lange Kleidungsstück in unserem Gepäck eines zuviel war. Einige Autoalarmanlagen schrillten vor sich hin, die Alarmanlagen saßen allerdings in den Bäumen und waren Zikaden – die nächtliche Klangkulisse für die nächsten zweieinhalb Wochen. Die erste Hälfte unseres Aufenthalts wollten wir im flachen Ostteil Guadeloupes verbringen, die zweite Hälfte im bergigen Westen. Die Insel hat etwa die Größe Teneriffas und die Form eines Schmetterlings. Der östliche Flügel, “Grande-Terre“ genannt, ist geprägt von Zuckerrohrfeldern, Weideland und Mangrovenwäldern. Umsäumt von kreideweißen Sandstränden und einer schroffen Felsküste. Der westliche Flügel, „Basse-Terre“, ist vulkanisches Bergland, mit Regenwäldern, vorgelagerten Korallenriffen und einigen der schönsten Strände der Karibik. Kleine ländliche Ortschaften mit den typischen blau-, rosa-, pastellfarbenen Holzhäusern sind über die Insel verstreut. Man lebt vom Zuckerrohranbau – sprich Rumbrennerei, Bananenanbau, der Fischerei, Tourismus und den EU-Subventionen. Schwarzafrikaner machen einen Großteil der 420.000 Insulaner aus. Man spricht französisch – und lebt auch so, mit einer Rumflasche voll kreolisch karibischem Lebensgefühl. Die Kokosnuss fällt neben das Croissant, der EC-Automat steht neben der Hahnenkampfarena. Ein dichtes Straßennetz durchzieht die gesamte Insel, der Straßenbelag ist überall rennradtauglich – sprich die Straßen stehen denen unserer Breiten in nichts nach. Lebensstandard und Infrastruktur sind gut, das Leitungswasser ist trinkbar. Öffentliche Verkehrsmittel sind billig und Busse steuern fast jeden Ort der Insel an. Auf den ländlichen Straßen fahren wenige Autos, in den größeren Orten und auf den Hauptrouten kann es dagegen schon mal recht geschäftig werden. Trotzdem kommt man vergleichsweise Nerven schonend durch den größten Verkehr, denn als Radfahrer wird man überall be- und geachtet. Schließlich ist Rennradfahren auf Guadeloupe Nationalsport. Und dachten wir zuerst, Franzosen vom Festland würden hier vor allem trainieren, täuschten wir uns gewaltig: fast jeden Morgen kamen uns einheimische Radteams entgegen.

Von Deutschland aus hatten wir über das Internet einen Bungalow angemietet. Anse-Bertrand, ein kleiner Ort im Norden der Ostinsel war unser Ausgangspunkt für die Roll-Touren. Eine interessante Frage war, wie wir bei unseren Radtouren mit dem tropischen Klima zurechtkommen würden. In den Wintermonaten herrscht zwar so etwas wie eine Trockenzeit, trotzdem ist die Luftfeuchtigkeit hoch. Je nach Region bis zu 90 Prozent – bei Temperaturen zwischen 28 Grad und 32 Grad. Meistens fuhren wir gegen 7:30 Uhr morgens los. Das klingt jetzt disziplinierter als es ist, denn durch die Zeitverschiebung entspricht das gefühlten 11:30 Uhr MEZ. Kurz gesagt, man kann einfach im mitteleuropäischen Sonntagsausschlafrhythmus bleiben – auch ein Vorteil. Im Gegensatz zu unseren Breiten ist es morgens nur unwesentlich kühler als mittags. Sobald die Sonne scheint – und sie scheint ziemlich genau ab sechs Uhr für die nächsten zwölf Stunden – ist es warm. Ein Problem sind die Temperaturen trotzdem kaum. Es ist immer warm, manchmal auch heiß, aber der Wind, respektive Fahrtwind lässt es noch erträglich bleiben – zumal das Meer eigentlich immer als Kühlwasser greifbar ist. Der eigentliche Vorteil am früh morgendlichen Start ist, dass man auch nach langen 150 Kilometern schon nachmittags zurück ist. Dann beginnt der Bade-, Schnorchel-, Dösen-unter-Palmen-Urlaub, und die Wassertemperatur von 28 Grad schockt auch austrainiert fettarme Beine nicht. Wer hier mit Radfahrmarkierungsbräune zurückkommt hat etwas falsch gemacht. Man ahnt es: die Insel hat viele gute Argumente, nicht nur Rad zu fahren. Die tropische Unterwasserwelt lässt sich überall an der Küste bereits ohne Tauchgerät nur mit Schnorchel und Taucherbrille erleben. Und einen spektakulären „aktiven“ Ruhetag kann man an der Nordspitze der Ostinsel begehen. Die türkisfarbene Lagune Porte d’Enfer ist schon allein einen Badeausflug wert. Vor allem aber der elf Kilometer lange Klippen-Trail, der „Trace des Falaises“. Dieser Trail führt entlang der oft über sechzig Meter hohen Klippen, durch eine menschenleere Busch- und Felslandschaft; man blickt in haushohe Brandungshöhlen, hört das dumpfe Schlagen der Wellen in der Tiefe.

Aber zurück zum Radfahren. Lange, übersichtliche Straßengeraden durchziehen die Osthälfte im Norden und in der Mitte. Besonders im Norden kommt nur selten ein Auto. Man rollt vor sich hin, lässt die Gedanken reisen, macht einen guten Schnitt, sieht rechts alte Windmühlen, weiße Kuhreiher und die dazugehörigen Kühe, Zuckerrohr, Buschwälder. Links ein paar flache Häuser und Hütten, herausgeputzte Blumengärten, Ziegen wie Hunde angeleint in den Vorgärten, hellblau uniform gekleidete Schulkinder, die auf den Bus warten. Und oben die Sonne, fast senkrecht – Lichtschutzfaktor-20-Zeit. Schatten gibt es selten, mit dem Regen ist das nicht ganz so. Ob morgens, mittags oder abends, fast jeden Tag bekommt man irgendwo einen meist leichten Guss ab. Kalt wurde es uns trotzdem nie und wir kamen immer trocken, wenn man mal den Schweiß ausklammert, wieder in unserem Haus an. Auch abends bleibt es mild, oder anders gesagt, man kann locker ohne Bettdecke schlafen. Nicht aber ohne Moskitonetz, was wir in einer leidvollen ersten Nacht an eigener Haut erfahren durften. Aber auch wenn gestochen wird, so ist das nur nervig, nicht jedoch gefährlich, denn Guadeloupe ist frei von Malaria.

Ananas, Bananen, Papaya, Croissants, Cornflakes, Rohrzucker, Fruchtsäfte – das war unser morgendlicher Treibstoff für den Tag. Dann mittags ein Baguette oder Kuchen in einem Café, abends die leider nicht ganz billige kreolisch, karibische Küche (Fisch, Fisch, Fisch, Curry, Pfeffer, Kokos, Maniok, Süßkartoffeln...). Oder man kocht sich selbst: Die vielen kleinen Supermärkte bieten alle Radfahrer-relevanten Nahrungsmittel (Nudeln, Reis...). Fisch und Gemüse gibt es überall. Und auch für die Rennräder ist gesorgt, denn in den Regionalzentren der Insel gibt es gut ausgestattete Radsportgeschäfte. Einmal hatte mein Kollege an einer 20 Prozent Rampe einen Kettenriss. Wir waren 40 Kilometer von unserem Haus weg und gut 15 Kilometer vom nächsten größeren Ort. Es war Mittag, die Sonne bohrte sich in unsere Haut wie Seeigelstacheln. Tretroller fahren bis nach Hause? Wir hatten gerade zu jammern angefangen, als ein Einheimischer mit seinem Auto anhielt. Er sah das Problem und sagte gleich, er kenne jemand hier, der das reparieren könne. Wir waren skeptisch – Fahrradketten gehören zu den sensibleren Geschöpfen. Er nahm meinen Kollegen samt Fahrrad mit zum nächsten Dorf. Leider war der Gesuchte nicht da. „Oh, pas de problem!“ – kein Problem, macht nichts, sagte unser Helfer, probieren wir es beim Nachbarn. Zehn Minuten später war die Kette fachmännisch repariert. Der Nachbar, ein Traktormechaniker, hatte kurz kritisch auf die Kette geblickt, und dann, so als ob er den ganzen Tag nichts anderes machen würde als Dura Ace Hyperglide® Rennradketten zusammenzuflicken, ruck zuck ein Glied ausgewechselt, fixiert, den Kettenlauf geprüft – fertig. Wir fragten, was es kosten würde, er schüttelte nur schon wieder anderweitig beschäftigt den Kopf und sagte „bonne route!“ – gute Fahrt.

„Salut – ça va?“ Hallo, wie geht’s – besonders an den Wochenenden trafen wir auf andere Radfahrer. Meistens Einheimische, die dann auch gerne mal unsere und ihre Tempohärte testeten. Dass wir aus Deutschland kamen, wurde mit wohlwollendem Kopfnicken quittiert; selten trifft man hier nicht-französische Urlauber. Dafür waren erstaunlich viele unserer temporären Bekanntschaften bereits in Deutschland gewesen. Denn wer es sich leisten kann, studiert in Frankreich und verbringt so auch den ein oder anderen Urlaub in Europa. Passend zum ruhigen Inselleben, zeichnen sich die meisten Einheimischen durch eine wohltuend unaufgeregte Lässigkeit aus. Der relative Wohlstand Guadeloupes und die kulturelle Nähe zu Frankreich gibt seinen Bewohnern ein gesundes Selbstbewusstsein. Als Urlauber wird man nur angesprochen, wenn man das auch will; Touristennepp und Aufdringlichkeit wird man kaum erfahren.

Der Süden der Osthälfte, nicht weit von der Hauptstadt Point-à-Pitre, ist das „Mittelgebirge“ Guadeloupes. Auf den schmalen Nebenstraßen der „Les Grands Fonds“ genannten Hügellandschaft geht es zwar kaum höher als 150 Meter über den Meeresspiegel, aber dafür hurtig auf und ab. Und überraschend – schalt, schalt, schalt – steil mit oft bissigen 15 Prozent. Ein Lokalklima herrscht hier, es ist feuchter, die immer wieder nassen Straßen dampfen in der Wärme. Ein Kilometer lang regnet es, auf dem nächsten scheint die Sonne. Sattgrün, weiß, blau und rot – der fruchtbare vulkanische Boden dieser Gegend macht sie zu einem botanischen Garten. Hat man genug von den vielen kurzen Stichen, rollt es sich in zwanzig Minuten hinunter zum Meer. Dort an der Südküste von Grande-Terre ist das touristische Zentrum Guadeloupes. Le Gosier, Saint-François und Sainte-Anne stehen besonders in der Gunst älterer Festlandfranzosen. Die schönen Palmenstrände sind gut gefüllt, Senioren in Shorts und Badelatschen schlendern zwischen „Supermarchés“ und Souvenirständen. Segelyachten dümpeln im meist ruhigen Wasser vor dem Strand; Restaurants flankieren die Strandpromenade, einige der ansonsten sehr spärlichen Internet-Cafés gibt es hier, dezente Hotelanlagen, sogar ein bisschen Nachtleben. Trotzdem kein Massentourismus, es bleibt erträglich. Denn noch sind es nur rund 350.000 Touristen jährlich, die Guadeloupe besuchen.

Die Inselhauptstadt Point-à-Pitre liegt an der nur wenige Kilometer breiten Landenge zwischen dem West- und Ostteil der Insel. Rund 120.000 Einwohner zählt die überschaubare Hafenstadt. Im lebendigen Stadtkern gibt es noch einige schöne koloniale Straßenzüge. Direkt an der Hafenmauer ankern acht Stockwerk hohe Kreuzfahrtschiffe. Von Point-à-Pitre aus gelangt man nicht nur zum jeweils anderen Inselteil, sondern via Fähre auch zu den Nachbarinseln Marie-Galante, Dominica und Martinique. Eine Schnellstraße umgeht das Stadtzentrum und bringt einen zügig nach „Basse-Terre“, der Westhälfte Guadeloupes. Dicht besiedelt ist die Gegend in Hauptstadtnähe – und flach. Aber wie der Verkehr gegen Westen langsam aber sicher ab nimmt, die Bebauung zurück tritt, beginnt sich auch die Straße zu buckeln. Erst sind es Wellen, dann Hügel – und bald erreicht man das, was tagelang den Horizont begrenzte: die dicht bewaldeten Berge des Nationalparks von Guadeloupe.

Die zweite Hälfte unseres Radurlaubs hatte begonnen. Und die weitaus anspruchsvollere. Wir bezogen Quartier in einem Bungalow bei Deshaies an der Westküste. Der ehemalige Fischerort liegt in einer der vielen, für diese Gegend typischen Buchten, eingerahmt von den Ausläufern des wenig erschlossenen Vulkanmassivs. In dieser Gegend sind die meisten Ferienbungalows dieser Hälfte Guadeloupes. Hotels findet man nur wenige entlang der Westküste. Die Küstenstraße, an der alle Ortschaften liegen, führt in jede Bucht, durch jede Flussmündung – um dann sofort, nachdem man den Tiefpunkt auf Meeresniveau durchfahren hat, unerbittlich wieder hinauf zu steigen, zum Teil mit Steigungsprozenten, die einem das letzte Salz aus den Oberschenkeln pressen. Auf diese Weise kommen auf der rund 70 Kilometer langen Strecke entlang der Westküste gut und gerne 1200 Höhenmeter zusammen. Kanaren- und Mallorcafahrer wissen, dass Höhenangaben auf Inseln harmloser klingen als sie sind, denn es geht fast immer bei Null los. Und von Null auf 1200 Meter Höhe ist eben dann das gleiche, wie in den französischen Alpen vom Tal hoch nach L’Alpe-d’Huez. Hinzu kommt die in warmen Regionen oft übliche Missachtung moderater Bergstraßenplanung. Wozu auch – Eis und Schnee gibt es nicht. Warum Serpentinen, wenn’s auch geradeaus geht? Diese Einstellung hat auf den Nebenstraßen teilweise regelrecht darwinistische Streckenabschnitte zur Folge: mit 15, 20, 25 Prozent geht es bergauf. Straßen sind hier Selektionsfaktoren. Trotz der einmaligen Landschaft trifft man deswegen weit weniger Rennradfahrer als im Osten Guadeloupes – die Steigungen fordern ihren Tribut. Aber die Mühen werden belohnt. Durch großartige Ausblicke, einsame, von Palmen umsäumte Sandbuchten und beschauliche Fischerdörfer. Und man erschließt sich den Zugang zum Nationalpark – zu den Regenwäldern des Vulkanmassivs. Und das ist das wirklich Einzigartige an Guadeloupe. Wo sonst auf der Welt kann man durch ursprünglichen tropischen Regenwald auf einer guten, geteerten Straße sicher wie in Mitteleuropa Rennrad fahren? In einer Kulisse, die man sonst nur von Volkshochschul-Diavorträgen zerzauster zivilisationsflüchtiger Weltumradler kennt?

Basis unserer Radtouren im Westen war die Küstenstraße N2, die den Westflügel Guadeloupes einmal komplett umrundet. Im bergigen Westen geht es wie beschrieben ständig auf und ab. Man passiert alle zehn Kilometer einen kleinen Fischerort. Zuerst Deshaies, wo es einige nette Cafés und Restaurants gibt, dann das lebendige Pointe-Noire und das Tauchzentrum Pigeon und schließlich Basse-Terre, das gleichnamige Zentrum des Westteils und der Ausgangspunkt für Touren hoch zum Vulkan La Soufrière. Hat man gerade mal genug vom hoch und runter, stehen zur Rechten die schönsten Strände der Insel bereit: Plage de Clugny, La Grande Anse, Anse Colas, und ganz im Süden mit schwarzem Vulkansand die Strände bei Trois-Rivières. Von der mäßig befahrenen Hauptstraße N2 zweigen immer wieder Nebenstraßen ab, auf denen man schnellstens sein Höhenmeterkonto auffüllen kann. Im Gegenzug hat man dafür die Straße fast für sich und erlebt hautnah die Natur der Insel. Radelt man von Norden die Westküste hinunter, biegt hinter Point Noire die Route de la Traversée ab. Diese Straße verbindet die Westküste mit der Ostküste, das heißt, sie durchquert die Berge des Nationalparks. Mit für diese Region gemäßigten acht Prozent Steigung führt die Straße auf rund 750 Meter Höhe. Schweißnass kommt man oben an, blickt hinunter zum Meer, um dann die vielleicht schönste Radstrecke Guadeloupes in Angriff zu nehmen. Bergab rollt es, auf einer perfekten Straße mitten durch den Regenwald des Nationalparks. Viel zu schnell fliegt die unberührte Naturlandschaft rechts und links vorbei. Immer wieder passiert man einen der zahlreichen Urwaldbäche. An einigen Stellen zweigen Pfade ab zu nahen Wasserfällen. Dafür lohnt es sich dann auch das Rad mal ein paar hundert Meter zu tragen. Fern von der Straße rauscht nur noch das dunkle klare Wasser. Zwischen den Basaltblöcken des Massivs stauen sich die Bäche und bilden natürliche Badewannen.

Am besten erschließt sich die Wildnis des Nationalparks aber zu Fuß. Der Gebirgshauptkamm und die Umgebung des Vulkans sind ein einmaliges Wander- und Treckinggebiet. Schmale, gut markierte Trails führen quer durch den Bergregenwald. Zum Teil kommt man noch durch Primärwald – Regenwald, in dem noch nie Holz geschlagen wurde – , mit über 50 Meter hohen Gummi- und Mahagonibäumen. Allein 300 verschiedene Baumarten gibt es hier, umschlungen von Bein dicken Lianen, wildem Wein, Epiphyten und Flechten. Die unbefestigten Trails queren Urwaldbäche mit bis zu 125 Meter hohen Wasserfällen und Kaskaden. Und ein gutes Dutzend kleinerer Flüsse bricht sich seinen Weg durch das Vulkangestein hinunter zum Meer.
Giftschlangen oder andere potentiell gefährliche Tiere muss man beim Wandern nicht fürchten – es gibt sie auf Guadeloupe einfach nicht. Der Regenwald hält bezüglich des Wetters, was sein Name verspricht. Man sollte zumindest ein zweites, im Bedarfsfall dann hoffentlich trockenes T-Shirt im Rucksack haben. Das Klima hier im Westteil Guadeloupes ist ohnehin noch feuchter als im Osten. Kurze Schauer und Sonne wechseln ständig, trotzdem überwiegt die Sonne in den „Wintermonaten“ bei weitem – Dauerregen gibt es zu dieser Jahreszeit nicht. Die Luft ist dämpfig, aber auch hier weht vom Meer immer ein leichter Wind. Die höchste Regenwahrscheinlichkeit besteht um die Mittagszeit, dann sind die Berge meist in Wolken.

Allen voran der höchste Berg der Insel – der aktive Vulkan La Soufrière. Obwohl nur 1467 Meter hoch, ist er meistens Wolken verhangen. Wie alle anderen Vulkane der Antillen, ist er ein so genannter Explosivtyp. Das heißt, er neigt zu explosiven Ausbrüchen, weil seine Lava sehr zähflüssig ist und den Schlot entsprechend verstopft – so lange bis der Gasdruck die erstarrte Lava wegsprengt und manch anderes gleich mit. Zum Glück sind diese Ausbrüche sehr selten, der letzte große drohte 1976. Eine geteerte Straße führt bis knapp unter dem Gipfel. Die Wegbeschreibung für den dann folgenden Aufstieg könnte heißen: immer dem Geruch fauler Eier nach. Und bald riecht man den Krater nicht nur, sondern hört ihn auch. Laut wie eine Flugzeugturbine beim Start, drückt hier schwefliges Gas durch große Erdspalten aus dem Boden. Bei Windstille, was zum Glück hier äußerst selten herrscht, wird die unmittelbare Kraterregion wegen der Gase dann riskant.

Sechs Touren fuhren wir auf dem Westteil Guadeloupes. Zwischen 60 und 150 Kilometer (einmal komplett um die Halbinsel). Bei Rundtouren radelten wir immer gegen den Uhrzeigersinn, so hatten wir auf dem Heimweg meistens den verlässlichen Ostwind als Unterstützung im Rücken. Bei der Berg und Tal Fahrt entlang der Westküste sollte man besser nicht auf den Schnitt achten. Eher schon auf das in allen Blautönen lockende Meer. Neben dem Nationalpark in den Bergen ist unter der Meeresoberfläche ein weiterer großartiger Naturraum. Nahe dem Dorf Malendure liegt das Meeresschutzgebiet Réserve Naturelle de Cousteau. Benannt nach seinem Entdecker, dem Meeresforscher Jacques Cousteau. Ein Schnorchel- oder Tauchausflug gehört zum Pflichtprogramm und ist ein einmaliges Erlebnis. Schnorchel- und Tauchausrüstungen können ausgeliehen werden, verbunden mit zwei- bis vierstündigen Bootsfahrten zu den, ein Kilometer vor der Küste liegenden Korallenriffen. Das Wasser ist hier glasklar, so dass man bereits nur mit Schnorchel und Taucherbrille voll auf seine Kosten kommt und die Korallen samt Anwohner wie Meeresschildkröten, Papageienfische oder Kofferfische beobachten kann.

Nach entspanntem Schnorcheltag stand für uns als letzte Tour die Königsetappe an. Auf der ohnehin schon anstrengenden Küstenstraße sechzig Kilometer hinunter nach Basse-Terre, dann tief Luft holen und mit ernstem Blick abbiegen hinauf zum Vulkan La Soufrière und das gleiche wieder zurück. In nur zehn Kilometern schraubt sich eine Stichstraße hier hoch auf über 1300 Meter: macht durchschnittlich 13 Prozent. Die aber noch verschärft werden, was wir bald ahnten, denn beginnt es doch auf den ersten Kilometern „nur“ mit knappen zehn Prozent. Die Rampen mussten also irgendwann kommen. Ohne große Kurven führt die Straße zu Beginn bergauf an Feldern und Wiesen vorbei. Man erreicht nach fünf Kilometern den Ort Saint-Claude. Und dann wird es steil. Wie auf Kommando begann es bei unserem „Aufstieg“ zu regnen. Für jeden Kilometer gab es ein paar Prozente drauf: bald waren es deren 20 – und auch der Regen hatte sich dieser Steigerung angeschlossen. Ich verabschiedete mich vom Hinterrad meines Kollegen – man muss schließlich seinen eigenen Rhythmus fahren... Die Straße quälte sich durch das wahrscheinlich ganz nette Städtchen – wenn man dafür Augen hätte – , die Einheimischen blickten uns mitleidig hinterher, zaghaftes Anfeuern. Hinter Saint-Claude wurde die Straße schmal, dann schluckte sie der dichte Regenwald am Hang des Vulkanes. Es goss aus Kübeln. Ich begann zu fluchen.

Ging ich aus dem Sattel, drehte mein Hinterrad durch, blieb ich sitzen, drückte ich mir fast die Knie aus den Beinen. Alle Flüche erstickten im Dickicht rechts und links und über mir, und das steilste Stück sollte ja noch kommen, verflucht. Regenwasser, Schweiß, Blätter klebten an den Beinen; Trinken nicht möglich, keine Hand frei; dann kam Wind – oben? Der Wald wich ruppigem Buschland. Alles war von Wolken vernebelt, der Wind blies, natürlich von vorne, wo war der Kollege? Verdammt – es wurde noch einmal steiler. Wann kommt denn nur...– auf einmal trat ich ins Leere – es war eben. Oben. Der Parkplatz unter dem unsichtbaren Gipfel des Vulkans war erreicht. Ich fluchte weiter und traf auf meinen ebenfalls fluchenden Leidensgenossen. Wie begossene Pudel standen wir im Nebel, und tatsächlich, zum ersten Mal seit zwei Wochen, war uns kalt. Ein Foto, die Wasserflasche, ein Stück Traubenzucker, die Kette rechts und runter von diesem Berg: Zehn Kilometer Krampf in den Unterarmen, zitterndes Bremsen in knöcheltiefen Pfützen, 1300 Höhenmeter, 15 Grad Temperaturunterschied. Abends waren neue Bremsbeläge fällig. Wir stoppten erst, als wir vor uns das Meer sahen. Unten, endlich. Eine halbe Stunde später waren wir wieder trocken gefahren – und freuten uns über jeden Schatten. Der Strand rief. Rennradfahren auf Guadeloupe.

Orientierung

Guadeloupe gehört als Übersee-Departement zu Frankreich. Die 1.780 Quadratkilometer große Antillen-Insel liegt zwischen Atlantik und Karibik 700 Kilometer nördlich von Venezuela auf dem 16. Breitengrad oberhalb des Äquators. Der Zeitunterschied zu Deutschland beträgt im Winter minus vier Stunden. Die Währung ist der Euro, gesprochen wird Französisch. Viele Vermieter der Ferienwohnung können aber auch Englisch.

Reisezeit

Die Jahresdurchschnittstemperatur auf Guadeloupe beträgt 25°C. Das Klima ist äquatorial tropisch, sprich, es gibt keine ausgeprägten Jahreszeiten und die Sonne geht das ganze Jahr über um rund 6 Uhr auf und um 18 Uhr unter. Die beste Reisezeit ist die Trockenzeit in den Monaten November bis April. Aber auch während der Trockenzeit gibt es besonders im Westteil der Insel regelmäßig kurze Schauer. Die Temperaturen fallen nachts kaum unter 20°C und die Luftfeuchtigkeit steigt nicht so hoch wie in der Regenzeit. Die Tageshöchsttemperaturen liegen um die 30°C, die Wassertemperatur ganzjährig über 25°C. Die Regenzeit fällt zwischen Juli und Oktober. Dann regnet es häufig und kräftig, aber abgesehen von den Hurricane-Perioden selten länger.

Anreise und Unterkunft

Air France fliegt täglich von Paris nach Guadeloupe. Zielflughafen ist Point-à-Pitre, die Hauptstadt der Insel. Von allen großen deutschen Flughäfen gibt es mehrmals täglich Verbindungen nach Paris. Der Flug von Paris nach Guadeloupe dauert acht Stunden und man fliegt meist gegen Mittag ab und kommt auf Grund der Zeitverschiebung am frühen Abend an. Flüge von Deutschland aus über Paris gibt es ab 600 Euro. Auf Guadeloupe finden sich verhältnismäßig wenige Hotels, aber dafür viele gute Ferienhäuser und Appartements. Diese sind komfortabel und komplett ausgestattet, oft mit Klimaanlage und TV, auch Bettwäsche und Handtücher werden gestellt. Auf der Internetseite www.guadeloupe-fr.com findet man eine gute Übersicht des Angebots, inklusive Beschreibung und Kontaktadressen.

Reisevorbereitung

Spezielle Impfungen sind für Guadeloupe nicht erforderlich. Malaria gibt es nicht. Das Gesundheitssystem entspricht unserem Standard. Wegen des tropischen Klimas kann man alle warmen Kleidungsstücke zu Hause lassen. Auch abends oder nachts wird man draußen keinen Pulli brauchen. Ein Regenschirm (auch gegen die Sonne am Strand) kann nicht schaden, Windstopper oder langärmlige Trikots sind auch für die Berge nicht nötig. Ersatzteile und Werkzeug gibt es in einigen Fahrradläden – ein gut ausgestatteter Radsportladen ist in Morne-à-l’Eau an der Straße nach Petit-Canal. Trotzdem sollte man das übliche Notfall-Set dabei haben. Genauso wie Mineralsalz-Tabletten, ein gutes Sonnenschutzmittel (mindestens LF 12, wasserfest) und ein Mittel gegen Stechmücken für die Abende draußen.

Versorgung

Auch in kleineren Orten gibt es Supermärkte und gut ausgestattete Apotheken. Meistens auch eine Bank („Credit Agricole“) mit EC-Automaten und eine Post. Man kann also mit der normalen EC-Karte Euros abheben. Internetanschlüsse sind seltener. Internetcafés (franz. cybercafé, gesprochen sibercafé) gibt es nur wenige auf der Insel – und zwar in Sainte-Anne, Le Gosier, Saint-François, Point-à-Pitre, Deshaies und Basse-Terre. Die Infrastruktur und das öffentliche Verkehrssystem sind gut, das Leitungswasser trinkbar. Busse steuern günstig jeden Ort an. Mietwagen gibt es in den Touristenzentren Le Gosier und Sainte-Anne, sowie in der Hauptstadt Point-à-Pitre und Basse-Terre. Man braucht aber nicht unbedingt einen Mietwagen. Die Vermieter der Ferienwohnungen organisieren für gewöhnlich den Transfer vom und zum Flughafen (bei der Absprache Fahrräder nicht vergessen).

Touren

Die besten Ausgangspunkte für einen Radurlaub auf Guadeloupe sind auf der flachen Osthälfte die ruhigen Orte Anse-Bertrand und Port-Louis, die touristischeren Sainte-Anne und Saint-François. Auf der bergigen Westhälfte sind es die Orte Deshaies, Pointe Noire und Bouillante, und alles was zwischen diesen Orten an der Küstenstraße liegt. Es empfiehlt sich die erste Urlaubshälfte im flachen Osten zu verbringen und die zweite Hälfte im Westen. Die Tourencharakteristik ist bezüglich des Profils auf der Osthälfte einfach. Hier gibt es viele Nebenstraßen mit wenig Verkehr. In der Westhälfte ist das Profil anspruchsvoll bis sehr schwer. Im Bergland von Basse-Terre warten Anstiege mit mehr als 20 Prozent. Eine Mindestübersetzung von 39/26 ist Pflicht – besser ist ein 28er Ritzel oder ein Dreifachkettenblatt. Die Westhälfte wird von der Küstenstraße dominiert, aber auch hier gibt es viele kleine Straßen, die im östlichen Teil durch eine wellige ländliche Gegend führen und immer wieder hoch in die Berge. Der Wind kommt auf beiden Inselhälften fast immer aus Osten, wirklich starke Winde sind in der Trockenzeit jedoch selten. Einen Abstecher und Tagesausflug wert ist die vorgelagerte Insel Marie-Galante. Von Point-à-Pitre und Saint-François aus erreicht man diese reizvolle und dünn besiedelte Insel mit der Fähre in einer knappen Stunde. Auf Marie-Galante ist kaum Verkehr. Es gibt einsame schmale aber trotzdem gute Straßen, die abwechslungsreich durch Buschland und Zuckerrohrfelder auf knapp 200 Meter Höhe führen – und hinunter zu traumhaft leeren Stränden. Allen voran einer der schönsten Strände der Karibik, der Palmenstrand bei Capesterre.

Information und Literatur

Information: Französisches Fremdenverkehrsamt Maison de la France, Westendstraße 47, 60325 Frankfurt/M. Im Internet: www.antilles-info-tourisme.com/guadeloupe Reiseführer: „Guadeloupe“, Ulysses Travel Guides, auf englisch, aktuell und informativ, aber kaum Bilder.

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